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Wörter-Chronofakten

Ich (Fomina 1999) definiere sie wie folgt104:

Wörter-Chronofakten ( oder Chronoto­pe) sind lexikalische Einheiten, welche konkrete Fakten, Begriffe, Ereignisse etc. bezeichnen, die für eine bestimmte historische Periode charakteristisch sind, und die außerdem von Vertretern einer Gesellschaft als politisch bedeutsame, gesellschaftlich aktuelle Wörter wahrgenommen werden.

Zu den Chronotopen zählen auch Wörter, die Persönlichkeiten charakterisieren, mit deren Namen bestimmte Etappen der historischen Entwicklung eines konkreten Landes oder der gesamten Weltgeschichte verbunden sind (Fomina 1996 a).

In der gegenwärtigen Linguistik wird für die Bezeichnung der Wörter solcher Art der Terminus "temporale Register/Anzeiger" verwendet, der dazu, meiner Meinung nach, nicht geeignet ist, weil solche Wörter nicht nur temporal, sondern auch sozial, politisch und ideologisch bedingt werden können.

In Zeitungstexten sind Wörter-Chronofakten (Chronotope) meist Substantive, weil gerade diese in den meisten Fällen Fakten, Ereignisse und Geschehnisse aus der menschlichen Geschichte, der Weltpolitik, der Wirtschaft, der Kultur und aus anderen Bereichen der menschlichen Lebenstätigkeit kennzeichnen.

In Zeiten historischer Umbrüche vergrößert sich die Anzahl der Wörter, die verschiedene historische Realitäten charakterisieren, sehr schnell. In dieser Arbeit habe ich Wörter-Chronofakten analysiert, deren Entstehung sich auf die Zeit vor (DDR) und nach der Wiedervereinigung Deutschlands bezieht105. Sie kennzeichnen ein breites Spektrum vielfältiger politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und sozialer Gegebenheiten/Ereignisse:

  • den politischen Zustand: Fluchtwelle, Existenzkrise, Machtmissbrauch, Verschuldung, Misswirtschaft, Konkurs (der DDR - Wirtschaft) etc.;

  • den intellektuellen Zustand: Nihilismus, Minderwertigkeitsgefühl, Geistesverwirrung etc.;

  • konkrete bekannte Persönlichkeiten, z.B.:

  • Helmut Kohl: goldener Kanzler, Enkel Adenauers, vertrauenerweckender Politiker, Kanzler der Einheit etc.

  • M.S. Gorbatschow: Gorbi, Reformator, Gigant, Top-Politiker, Russlands Veränderer, Top-Mann, alles verstehender Held, Mann des Jahrhunderts, entmachteter Gorbatschow, Verlierer etc.;

  • B. N. Jelzin: urwüchsiger Russe, Herrscher der neuen Supermacht, Mann voller Widersprüche, Gorbatschows demokratischer Retter, Wodka-Trinker, Russen Herrscher, Rebell etc.;

  • E. Honecker: Honi, DDR-Größe, Diktator, gejagter Hase, gejagter Mann etc.;

  • Bürger in der BRD und in der ehemaligen DDR: Wessis, Ossis, Besserwessi, Ossimichel etc.;

  • Politiker: Spitzenkandidat, Dissidenten, Korkenzieherhälse, Querulanten, Wendehälse etc.;

  • Parteien: Gesangspartei, Partei der Schuldigen, Partei der deutschen Unzufriedenen, Biertrinkerunion etc.;

  • politische und wirtschaftliche Prozesse: Gewöhnungsprozeß, Anpassung, Entstasierung, Vernunft, Wohlstand (für alle) etc. ;

  • soziale Gegebenheiten: Arbeitslosengeld, Arbeitsplatzräuber, Unterhaltshilfe, Sozialmißbrauch, Arbeitslosenunterstützung etc.

Außerdem bin ich der Meinung, dass man Wörter-Chronofakten von Schlagwörtern106 trennen muß. Obwohl beide genannten Typen der Lexik über eine Reihe von identischen Merkmalen verfügen, unterscheiden sie sich trotzdem wesentlich voneinander, was vor allem auf ihre funktionale Prägung zurückzuführen ist. Das bedeutet, dass Schlagwörter als Instrumente der politischen Beeinflussung dienen.

"Mit ihnen wird versucht, Denken, Gefühle und Verhalten zu steuern, soweit sie politisch relevant sind" (Klein 1989, S. 11).

Sie dienen Zielen der Propaganda und Realisierung aktueller, wirtschaftlicher oder künstlerischer Programme.

Chronotope haben im Unterschied zu den Schlagwörtern eine registrierende Funktion, denn "kein Faktum kann ohne das Wort überleben" (R. Hochhut), d.h. sie sind quasi ein "Aufbewahrungs­lager" des historischen Volksgedächtnisses. Wilhelm von Humboldt schrieb:

"Jede Sprache ist das Ergebnis von Jahrtausenden, der Ertrag der geistigen Arbeit ungezählter Menschen. Die Erfahrungen, die hinter jedem Wort stehen, sind nicht zu zählen, und was in dem Aufbau des sprachlichen Weltbildes beschlossen ist, das übersteigt jede Vorstellung von dem, was ein einzelnes Leben je erbringen könnte" (Humboldt v. W. In: Tschich 1955, S. 98).

Wörter-Chronofakten erfüllen auch eine Erkenntnisfunktion, da Wörter und Wortgruppen, die verschiedenen Epochen eigen sind, nicht nur irgendeine historische Zeitperiode kennzeichnen, sondern auch zahlreiche bedeutende und weniger bedeutende historische Ereignisse und Fakten im Gedächtnis eines Volkes wieder zum Leben erwecken können.

Chronotope ermöglichen es diesen oder jenen geschichtlichen Zeitabschnitt in einer gewissen Ganzheit (Vollständigkeit) und Tiefe zu revozieren. In diesem Zusammenhang möchte ich die folgende Äußerung von Ludwig Reiners erwähnen:

"Volksgeschichte und Sprachgeschichte sind eng verschwistert" (Reiners 1944, S. 9).

Die überwiegende Mehrheit der Chronotope überlebt in der Regel ihre Zeit und verwandelt sich in typische "Spuren", "Wortdenkmäler" einer betreffenden Epoche.