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Seit dem Start der Währungsunion 1999 leidet Deutschland unter Miniwachstum und Rekordarbeitslosigkeit. Die gesamte Europäische Union ist meilenweit von ihrem Ziel entfernt, die „wettbewerbsfähigste und dynamischste Wirtschaftsregion der Welt" zu werden. Schlimmer noch: Seit die Franzosen am Sonntag „Non" zum

EU-Verfassungsvertrag sagten, steckt der Staatenbund in der schwersten Krise seiner Geschichte.

Was das alles miteinander zu tun hat? Viel, viel mehr, als die meisten Politiker und Experten einer großen Koalition des Schweigens öffentlich zugeben würden.

2. Es ist ein Tabuthema. Weil niemand in den Ruch kommen mag, ein Anti-

Europäer zu sein. Weil keiner die Ratifikation des Verfassungsvertrages gefährden wollte. Weil einfach nicht sein kann, was nicht sein darf.

Nach dem Scheitern des Referendums in Frankreich lässt sich aber nicht mehr verschweigen, worüber in Berlin bisher nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde; auch nicht, welche Analysen die Sachverständigen tief unten in ihrem 900-seitigen Gutachten 2004/2005 vergraben haben und was Regierungsökonomen in vertraulichen Vermerken schreiben: Der Euro, so der gemeinsame Nenner, hat nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile – vor allem für Deutschland ist er zu einer Wachstumsbremse geworden. Die gemeinsame Währung, so die Sorge, schweiße Europa nicht zusammen, sondern lasse den Kontinent wirtschaftlich auseinanderdriften. In einer vertraulichen Expertenrunde von Finanzminister Hans Eichel (SPD) und Bundesbankchef Axel Weber am vergangenen Donnerstag ist sogar über das bisher Undenkbare geredet worden: ein Auseinanderbrechen der Währungsunion. Im Bundestag gibt es ein bisher unter Verschluss gehaltenes Rechtsgutachten über die „Beendigung der Wirtschaftsund Währungsunion“: Die brisante Botschaft: Völkerrechtlich ist ein Ausstieg möglich.

Der Mehrheit der Deutschen wäre das nur recht. Eine Forsa-Umfrage für den stern ergab: Auch drei Jahre nach dem Umtausch des Bargeldes sagen 56 Prozent der Bürger: Gebt uns die Mark zurück!

3. Jetzt rächt sich, dass die gemeinsame Währung für Helmut Kohl und seinen Partner Fransçois Mitterrand kein wirtschaftliches Projekt war, sondern ein politisches Vehikel für die europäische Einigung. Für den deutschen Kanzler war es „eine Frage von Krieg und Frieden“; für den französischen Präsidenten ging es schlicht darum, nach der Wiedervereinigung die beiden Länder unwiderruflich aneinander zu binden (stern Nr. 26- 1997 - Wie die Mark geopfert wurde).

Um den skeptischen Deutschen den Abschied von ihrer geliebten Mark zu erleichtern, wurden jede Menge ökonomischer Gründe nachgeliefert. Wenn man Bilanz zieht,

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steht nur eines positiv heraus: Der Euro ist tatsächlich „stark wie die Mark", wie es der damalige Finanzminister Theo Waigel (CSU) immer wieder angekündigt hatte. Die Europäische Zentralbank (EZB) eifert ihrem Vorbild Bundesbank nach: Die Inflationsrate der Euro-Zone lag in den vergangenen fünf Jahren bei zwei Prozent. Polit-Rentner Waigel pflegt heute zu sagen: „Wir haben unser Versprechen gehalten“.

Das war aber auch das einzige.

Was sollte der Euro nicht alles noch an Wohltaten bringen?

Niedrigere Zinsen: Billiges Geld ist das beste Mittel, um die Wirtschaft anzukurbeln. Gesunken sind die Sätze vor allem in Spanien, Portugal, Griechenland und Italien, wo noch Mitte der 90er Jahre mehr als neun Prozent fällig waren. Dies führte zu einem kräftigen Wachstumsschub. Die früheren Hartwährungsländer Deutschland, Frankreich und Benelux konnten davon nicht profitieren. Dass auch hier die Zinsen heute niedriger sind, ist Folge eines weltweiten Trends und wäre auch ohne Euro so gekommen.

Weniger Währungsschwankungen: Das Auf und Ab der Wechselkurse ist für alle

Exportunternehmen teuer und unberechenbar. Da die Wechselkurse zwischen den Euro-Ländern festgezurrt sind, können sie logischerweise nicht mehr schwanken. Ein

Pluspunkt. Gegenüber dem Dollar allerdings schlägt der Euro die gleichen Kapriolen wie früher die Mark. Der Wert fiel erst auf 83 Cent, um dann bis auf 1,34 Euro zu klettern. Das entspricht Dollar-Kursen zwischen 1,45 und 2,35 Mark. Die Klagen der deutschen Autoindustrie klingen heute denn auch nicht viel anders als in den 90er Jahren.

Mehr Handel: Eine gemeinsame Währung kurbelt den Warenaustausch an. Die Preise lassen sich einfacher vergleichen. Auch die Kosten für Umtausch und Währungsabsicherung sind weggefallen. Das war aber nur ein einmaliger Effekt. Der Handel zwischen den Euro-Ländern wächst tatsächlich - allerdings deutlich schwächer als der

Welthandel. Im Wachstum wurde Europa von dem anderen großen Binnenmarkt mit gemeinsamer Währung klar abgehängt: den Vereinigten Staaten.

Gemeinsamer Kapitalmarkt: Je besser die Finanzmärkte entwickelt sind, umso billiger können sich Unternehmen Geld für Investitionen besorgen. Die Börsenentwicklung in Euro-Land bestimmt allerdings immer noch die Wall Street. Einen Finanzplatz, der es mit New York, London oder Tokio aufnehmen könnte, gibt es nicht. Auch wegen der horrenden Staatsverschuldung hat sich vor allem der Anleihemarkt gut entwickelt. Die Konditionen sind besonders für kleinere Länder günstiger geworden, weniger für das große Deutschland, dessen Schuldpapiere schon immer begehrt waren.

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Die Bilanz der Währungsunion ist so ernüchternd, dass Sachbuchautor Henrik

Müller* die These „Der Euro macht Europas Wirtschaft dynamischer" in seine

Sammlung der „Wirtschaftsirrtümer" aufgenommen hat. Der Ökonom hält es für „bemerkenswert, dass gerade jene langjährigen EU-Länder, die nicht am Euro teilnehmen - Großbritannien, Schweden und Dänemark -, sich wirtschaftlich besser entwickeln als der Durchschnitt der Euro-Zone“. Im vergangenen Jahr war die

Wachstumsrate dort ein Prozent höher als im Euro-Gebiet und fast doppelt so hoch wie in Deutschland.

Und was sagen nun die Experten, die einst den Euro als Wirtschaftswunderwaffe priesen? „Der Euro ist nicht die Erfolgsgeschichte geworden, die ich mir erhofft habe", antwortet kleinlaut der Würzburger Ökonom Peter Bofinger. „Es wäre ohne den

Euro noch schlimmer“ behauptet Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Norbert Walter.

„Alle Volkswirtschaften ziehen Nutzen aus dem gemeinsamen Währungsraum", sagt trotzig EZB-Präsident Jean-Claude Trichet.

Wirklich alle? Die Fakten sehen anders aus. Die Deutschen zahlen für den Luxus, beim Urlaub in Euro-Land überall die gleiche Währung nutzen zu können, einen hohen Preis: jahrelangen Verzicht auf echte Lohnerhöhungen oder sogar den Verlust des Arbeitsplatzes. Der Euro macht die Deutschen arm - nicht auf dem Sparbuch, sondern bei den Jobs.

Neben den unbestrittenen Vorteilen, so geben inzwischen viele Experten zu, haben sich die Deutschen mit dem Euro Probleme in Serie eingehandelt:

Zuerst gab es den Teuro-Schock: Bei der Bargeldeinführung Anfang 2002 erhöhten

Friseure, Kinos und Gastwirte ihre Preise kräftig. Die Ökonomen behaupten, dass sich die Lage längst normalisiert habe. Doch noch heute sagen 90 Prozent der Deutschen, dass durch die Einführung des Euro die Preise dauerhaft gestiegen seien. „Generellen Teuerungsargwohn" nennt Stephan Grünewald von der Marktforschungsfirma Rheingold das Phänomen: “Die Leute haben das Gefühl, als gäbe es Inflationsraten von 70 Prozent“. Fatale Folge: Weil die Verbraucher alles für überteuert halten, geben sie ihr Geld nicht aus – zum Schaden der Konjunktur.

Dann stellte sich heraus, dass der Bundesbank-Gewinn immer weiter schrumpft. Die deutsche Notenbank hatte immer hohe Gewinne gemacht - zur Freude des Finanzministers, der so Staatsschulden tilgen konnte, ebenso zum Nutzen der Bürger, die andernfalls noch mehr Steuern hätten zahlen müssen. Seit dem Rekordwert von rund 12,4 Milliarden Euro 1997 ist die jährliche Überweisung aus Frankfurt auf ein paar hundert Millionen zusammengeschmolzen. Weil die Deutschen traditionell mehr Bargeld benutzten und die D-Mark auch in Osteuropa weit verbreitet war, hatte

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die Bundesbank immer hohe „Geldschöpfungsgewinne“ gemacht. Auch beim Euro hat die Bundesbank 40 Prozent der Banknoten ausgegeben, bekommt aber nun nur noch rund 27 Prozent des Gewinns - der Rest geht an die anderen Länder.

Es zeigte sich, dass die Mark überbewertet in die Währungsunion gegangen war. Dementsprechend schwer fiel es der deutschen Industrie zunächst, ihre Produkte in den anderen Euro-Ländern zu verkaufen. Der Umstellungskurs für die deutsche Währung war etwa 30 Prozent zu hoch. Der Einheitsboom und die anschließende Hochzinspolitik der Bundesbank hatten den Wert nach oben getrieben. „Eigentlich hätten wir 1998 noch eine Abwertung gebraucht, vor allem für Ostdeutschland“, sagt Wirtschaftsprofessor Bofinger. Stattdessen versucht Deutschland jetzt mühsam, Jahr für Jahr,

Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Da es über den Wechselkurs nicht mehr geht - der ist ja festgeschrieben -, geschieht es über die Löhne, die kaum noch steigen. Im vergangenen Jahr sanken die gezahlten Stundenlöhne sogar um ein Prozent - das gab's noch nie. Volkswirte nennen das „reale Abwertung".

Auch die europäische Geldpolitik erweist sich als unpassend für Deutschland. Die Europäische Zentralbank legt ihre Zinsen für den ganzen Euro-Raum fest. Nicht, nur für die Bundesrepublik. Hierzulande stiegen die Preise im vergangenen Jahr nur um 1,7 Prozent - in Spanien und Griechenland dagegen fast um das Doppelte. Für uns könnte der Leitzins niedriger sein. Das würde der schlappen Konjunktur helfen. Für die Südländer dagegen müsste der Leitzins sogar höher sein, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern. Ergebnis: „Die Geldpolitik der EZB ist für Deutschland vergleichsweise hart", sagt der Chef-Wirtschaftsweise Rürup. „Das ist der Preis der gemeinsamen Währung."

4. Am schwierigsten wiegt aber das, was Volkswirte den „Verlust des Realzins-Vor- teils“ nennen. Der Realzins ist der Preis, den Investoren tatsächlich für Kapital zahlen müssen: der Zins für Kredite abzüglich der Preissteigerung. Bei einem Zins von drei Prozent und einer Inflationsrate von 1,3 Prozent beträgt der Realzins also 1,7 Prozent. Zu D-Mark-Zeiten waren Zins und Inflation, also auch der Realzins, immer recht niedrig, jedenfalls niedriger als im Rest von Europa. Deswegen investierten die Unternehmen viel in Deutschland und schufen hier neue Jobs. Auch die Fabriken und Maschinen waren so immer auf dem neuesten Stand.

Seit der Währungsunion gibt es die schönen, niedrigen Zinsen in ganz Europa. Ohne große Risiken können deutsche Unternehmen genauso gut in Irland oder Spanien investieren. „Für den Standort Deutschland hat das eine erhebliche Verschärfung des Wettbewerbs gebracht“, analysiert der frühere Bundesbank-Präsident Hans Tietmeyer.

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Deutlicher sagt es Hans-Werner Sinn, Chef des Info-Instituts: „Der Euro hat

Deutschland des Vorteils der niedrigen Zinsen beraubt“.

Mehr noch: Weil die Inflationsraten in Irland oder Spanien höher sind, ist der Realzins dort plötzlich sogar niedriger, zum Teil sogar negativ. Volkswirtschaftlich betrachtet, bekommen die Unternehmen dort das Geld umsonst hinterhergeworfen.

Für Deutschland haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Der Realzins ist zwar im historischen Vergleich immer noch niedrig, aber in der Währungsunion ist er plötzlich am höchsten. Von der Einführung des Euro, gibt der Wirtschaftsweise Rürup zu, gingen so „für Deutschland Bremswirkungen auf das Wirtschaftswachstum aus“:

5. Der Euro Schuld an der deutschen Misere? Deutschland Schlusslicht beim Wachstum nicht trotz, sondern auch wegen der Währungsunion? Immerhin knapp die Hälfte der Deutschen sieht das so.

Bisher war das ein Thema für Sektierer wie Bolko Hoffmann („Pro-DM-Partei") oder Außenseiter wie den früheren Thyssen-Chef Dieter Speermann („Die Einheitswährung ist eine Wachstumsbremse für Deutschland") und den Maastricht-Kläger Wilhelm Hankes („Der Euro ist viel schlimmer als die Globalisierung"). Finanzminister Eichel würde so etwas öffentlich nie sagen. Doch genau solch eine Argumentation haben ihm vor weniger Tagen seine Beamten aufgeschrieben.

In einem „Hintergrundvermerk zum Anpassungsprozess an die Europäische Wirtschaftsund Währungsunion", der dem stern vorliegt, heißt es: Die „weit unterdurchschnittlichen Realzinsen" sorgten in Griechenland, Irland, Portugal und

Spanien für „enorme Finanzierungsvorteile, die praktisch wie kräftige Steuersenkungen wirken". Allein für Spanien taxieren die Fachbeamten den Effekt auf stolze 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Den Zins-Nachteil Deutschlands berechnen Eichens Experten für 2004 mit 1,4 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das entspricht 30 Milliarden Euro. Im Beamtendeutsch lautet die Bewertung so: „Die Verschlechterung der relativen Finanzierungsbedingungen kann daher zu einem gewissen Grad herangezogen werden, um den Wachstumsrückstand Deutschlands gegenüber den anderen Euroländern zu erklären." Im Klartext: Der Euro ist ein Grund der deutschen Krankheit!

Nach dem ökonomischen Lehrbuch müsste sich die Situation irgendwann ausgleichen. Durch galoppierende Preise verlieren die Südländer an Wettbewerbsfähigkeit. Ihre Produkte werden auf den Weltmärkten immer teurer. Im Gegenzug würde Deutschland durch Lohnzurückhaltung und niedrige Inflation Marktanteile gewinnen. Der brummende Export könnte dann auch die Binnennachfrage ankurbeln. Irgendwann.

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Doch seit es den Euro gibt, stimmen die alten Regeln nicht mehr. Ob ein großes Land wie Deutschland binnen weniger Jahre die Realzins-Nachteile aufholen kann, ist fraglich geworden. Eichens Experten berufen sich auf eine Studie der

Wirtschaftsorganisation OECD in Paris: „Die Langweiligkeit der Anpassung führt zu einer derartigen Investitionsschwäche, dass sich in der Folge das Wachstumspotenzial insgesamt vermindert“.

Falls Deutschland auf Dauer herumkrebsen sollte, dann hätte ganz Europa ein Problem. Schließlich ist die Bundesrepublik immer noch die größte Volkswirtschaft der Union. Zumal sich die Euro-Länder in den vergangenen Jahren nicht aufeinander zu entwickelt haben, sondern wieder mehr auseinander laufen. Im vergangenen Jahr wuchs etwa Irlands Wirtschaft um 5,4 Prozent, während die italienische nur 1,2 Prozent erreichte und zum Jahreswechsel gar in die Rezession stürzte. Auch diese Entwicklung alarmiert die Experten im Finanzministerium. Das zeigt ein zweiter

Vermerk für Eichel, der dem stern vorliegt. Titel: „Eurozone: Zunehmende Besorgnis über verfestigte Inflationsund Wachstumsdifferenzen". Darin heißt es: „Anders als erwartet bestehen in den einzelnen Euro-Teilnehmerländern seit Beginn der Währungsunion im Jahr 1999 hartnäckige Divergenzen beim Wirtschaftswachstum, in der Kreditvergabe und der Preisentwicklung“: In den ehemaligen Hochzinsländern brumme bei hoher Preissteigerung der Binnenmarkt während in Deutschland,

Frankreich oder Österreich bei niedriger Preisentwicklung stattdessen der Export gut laufe. Eichel Ökonomen warnen: „Die Schere droht weiter auseinander zu laufen, sodass die Gefahr einer Anpassungskrise größer wird“ Bisher hätten EU-Kommission und Europäische Zentralbank das Problem mit dem üblichen Hinweis auf die Notwendigkeit von Strukturreformen „abgehandelt“. Nun werde das Thema „als schwerwiegender und dringlicher gewertet".

Wenig Trost bietet für Eichel die Tatsache, dass Deutschland rechtzeitig zum Wahlkampf die rote Wachstumslaterne an Italien abgegeben hat. Unter Minister Präsident Silvio Berlusconi hat Italien dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit verloren.

Ein Symptom dafür ist die schwere Krise des Autokonzerns Fiat. Seit der Euroeinführung verteuerten sich die relativen Arbeitskosten in Italien um 20 Prozent. Das Geschenk der niedrigen Eurozinsen wurde verspielt – ohne den Euro läge das Staatsdefizit heute nicht bei rund drei, sondern bei elf Prozent.

In einem vertraulichen Zirkel bei Finanzminister Eichel und Bundesbank-Präsident Weber schlug am vergangenen Donnerstag Joachim Fels, Ökonom bei der Londoner Investmentbank Morgan Stanley, Alarm: „Italien ist das Land, das mir am meisten

Sorgen macht“. Statt sich einer Schrumpfkur nach deutschem Vorbild zu unterwerfen,

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werde die Staatsverschuldung hochgefahren. Defizite von fünf oder sechs Prozent seien nicht auszuschließen. Nach der Lockerung des Stabilitätspaktes sei diese Entwicklung nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Sein Szenario: „Das kann in einigen Jahren zum Super-GAU führen: einem Auseinanderbrechen des Euro.“

Für die Italiener selbst würde trotz Dauerkrise ein Euroausstieg keinen Sinn machen. Denn selbst wenn sie die Lira wieder einführten, müssten sie ihre Staatsschulden in Euro zurückzahlen, was nach einer unvermeidlichen

Währungsabwertung teuer werden würde. Für wahrscheinlicher hält Finanzexperte

Fels, dass Deutschland mit einer kleinen Gruppe von anderen Staaten die Flucht aus der Eurozone antritt.

6.Eine verrückte Idee eines Bankers? Wohl kaum. In der Londoner City wird darüber seit Wochen diskutiert. Die Risikozuschläge für italienische Anleihen sind bereits leicht gestiegen. Und auch die britische „Financier Times“ schrieb: „Denken wir einmal das Undenkbare: Könnte die Eurozone auseinander brechen? Ja, das könnte sie.“

Aber geht das denn überhaupt? Haben Kohl und Co. nicht immer wieder beteuert, die

Währungsunion sei unwiderruflich, eine Schicksalsgemeinschaft, auf Gedeih und Verderb?

Das Bundesverfassungsgericht und das Völkerrecht könnten die Euro-Ehe wieder scheiden. Im Urteil zum Maastrichter Vertrag waren die Karlsruher Verfassungshüter davon ausgegangen, dass als letztes Mittel ein Austrittsrecht aus der

Gemeinschaft besteht, wenn die Stabilitätsgemeinschaft scheitert. Der CSU-Ab- geordnete Peter Gauweiler wollte es genauer wissen und bestellte beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages eine Expertise. Das Gutachten mit dem Titel

„Rechtliche Rahmenbedingungen der Europäischen Wirtschaftund Währungsunion" liegt dem stern vor.

„Ein Ausstieg ist rechtlich möglich“, freut sich Euroskeptiker Gauweiler. Zwar ist nach EU-Recht kein Austritt vorgesehen, aber wenn es hart auf hart kommt, dann steht das Völkerrecht darüber. Sowohl eine „einvernehmliche Aufhebungsvereinbarung" als auch ein „außerordentliches Kündigungsrecht" bei

„Wegfall der Geschäftsgrundlage" sind dem Gutachten zufolge nicht ausgeschlossen. Das Fazit der Untersuchung lautet: „Völkerund europarechtlich lässt sich (...) die Möglichkeit einer Beendigung der Wirtschaftsund Währungsunion über die einvernehmliche Aufhebung der Gemeinschaft insgesamt vertreten.“

7.Eine Rückkehr zur Mark wäre auch technisch gar nicht so schwierig. Es gibt nach wie vor die Bundesbank, die das deutsche Zahlungssystem kontrolliert und die

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den größten Teil der deutschen Währungsreserven besitzt. Selbst das Eurobargeld lässt sich ohne Mühe den jeweiligen Staaten zuordnen. Auf den deutschen Münzen prangt auf der Rückseite der Bundesadler, die Banknoten sind mit Buchstaben gekennzeichnet.

Für den Fall der Fälle: Bei italienischen Scheinen beginnt die Seriennummer mit einem S, bei deutschen mit einem X.

Ob es wirklich so weit kommen wird? Das wird, um mit Helmut Kohl zu antworten, die Geschichte zeigen. Der Schweizer Finanzwissenschaftler Peter Bohley hat sein

Urteil schon gefällt: „Die Einführung des Euro muss als eine der größten wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen in Deutschland nach 1945 angesehen werden" (Quelle: Stern Nr. 23, 2.6.2005).

Aufgaben:

I. Welche Namen kommen im Text vor?

II. Welche Meinungen vertreten diese Leute? Führen Sie ihre Aussagen an. Sind diese Aussagen in Bezug auf die entsprechenden Themen positiv? Negativ?

III. Lesen Sie den Text jetzt abschnittweise und finden Sie zusammenfassende

Überschriften für die Teile 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7.

IV. Stellen Sie bitte fest, mit welchen Formulierungen die Nachteile von dem Euro

(bzw. seiner Einführung) beschrieben werden.

V. Machen Sie eine Liste von den Verben aus dem Text, die den Euro charakterisieren

VI. Welche Länder werden im Text erwähnt? In welchem Zusammenhang?

VII. Was halten Sie für die jeweils wichtigste Aussage in Abschnitt 1, Abschnitt 2,

3, 4, 5, 6, 7, dieses Artikels?

VIII. Stellen Sie zusammenfassend in wenigen Sätzen die Probleme der Euroeinführung in Deutschland dar.

IX. Erklären Sie:

a)Der Euro ist ein Grund der deutschen Krankheit

b)gallopierende Preise

c)Sammlung der Wirtschaftsirrtümer

d)„<…> zuerst gab es den Teuro-Schock“

e)„Der Euro schweiße Europa nicht zusammen, sondern lasse den Kontinent wirtschaftlich auseinanderdriften“

f)“Das waren Blütenträume, die sich bisher lang nicht erfüllt haben“

g)„ Der Euro verhilft dem Alten Kontinent zu einer Frischzellenkur“

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h)„Die Einführung des Euro muss als eine der größten wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen in Deutschland nach 1945 angesehen werden".

X.Der Euro wird in diesem Artikel adjektivisch, verbal und nominal beschrieben. Bitte ergänzen Sie diese Liste mit dem Vokabular aus dem Artikel:

Adjektive

Verben

Substantive

 

 

 

 

 

 

XI. Wie würden Sie die Tendenz dieses Artikels bezeichnen: positiv oder negativ, optimistisch oder pessimistisch, zuversichtlich oder skeptisch, hoffnungsvoll oder hoffnungslos? Führen Sie Textstellen an, auf die Sie Ihre Bewertung stützen.

XII. Suchen Sie im Text alle Wörter, die eine negative Entwicklung ausdrücken. XIII. Welche grammatische Zeitform wird in diesem Artikel gebraucht?

Artikel 2. von Jan Boris Wintzenburg. TEURO – ODER NICHT?

Vieles ist mit der Gemeinschaftswährung in Deutschland teurer geworden - aber längst nicht alles. Ein Überblick.

Seit Einführung des Euro-Bargelds am 1. Januar 2002 sind die Preise in Deutschland um 4,8 Prozent gestiegen. Seit dem Jahr 2000, in dem viele Einzelhändler bereits mit Preisanpassungen begannen, sind es 7,7 Prozent. So oder so sind das weniger als 1,5 Prozent pro Jahr. Eigentlich ein Klacks. Von Teuerung kann da kaum die Rede sein.

Trotzdem haben 90 Prozent der Verbraucher das Gefühl, mit dem Euro seien viele

Waren und Dienstleistungen teurer geworden. Lügt die Statistik also doch?

Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden ermittelt jeden Monat die Preise eines Warenkorbes, der den durchschnittlichen Konsumgewohnheiten eines fiktiven Deutschen entspricht. Rund 750 Produkte sind enthalten, gewichtet mit ihrem Verbrauchsanteil: 0,0004 Dosen Rindgulasch, 0,00026 Gläser Senf, 0.00005 Durchlauferhitzer oder 0,00222 Fahrräder zum Beispiel. Alle fünf Jahre wird der Warenkorb neu zusammengestellt. Ein Jahr lang führen dafür ausgewählte Konsumenten exakt Buch über alles, was sie verbrauchen. Veraltete Produkte, die nicht mehr gekauft werden (etwa Farbbänder für Schreibmaschinen), fliegen raus, neue kommen rein. Sieht man sich einzelne Preissteigerungsraten an (siehe Auswahl rechts), wird klar, wie die niedrige Inflationsrate zustande kommt: Einiges wurde seit dem Jahr 2000 zwar um über 70 Prozent teurer, anderes aber auch sehr viel billiger. Im Warenkorb gleichen sich

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diese Extreme aus. Und der Teuro? Können sich so viele Verbraucher irren? Nein, den Teuro gibt es wirklichund zwar besonders da, wo wir es merken. Vor allem Produkte und Dienstleistungen, die wir bar bezahlen, häufig und meist einzeln kaufen, haben bei der Euro-Einführung einen Preissprung gemacht: Brötchen beim Bäcker, der Haarschnitt beim Friseur oder das Pils in der Kneipe.

Was wir allerdings nicht gemerkt haben, sind die günstigeren Preise für viele langlebigen Produkte, die wir seltener erwerben und oft auch per Kreditkarte oder Überweisung bezahlen: Videorekorder, Computer, Fernseher, Kühlschränke - die Liste ist lang. Hier fehlt uns schlicht der regelmäßige Vergleich. Außerdem schreiben wir Schnäppchen gern unserem eigenen Einkaufsgeschick zu und nicht der allgemeinen Preisentwicklung. Auch Dienstleistungen, die jeden Monat vom Konto abgebucht werden, nehmen wir weniger wahr. Dabei ist das Telefonieren um 4,5 Prozent billiger geworden und die Autoversicherung um 1,4 Prozent. Auch die Mieten haben sich unterdurchschnittlich entwickelt. Deswegen haben die Mathematiker in Wiesbaden Recht - und wir auch. Nur ist der Warenkorb in unserem Kopf eben viel subjektiver gepackt als der des Statistischen Bundesamtes.

Preisstatistik

Die Preisveränderungen von einigen ausgewählten Produkten aus dem Warenkorb des Statistischen Bundesamtes von 2000 bis heute in Prozent. Die durchschnittliche Teuerung betrug in diesem Zeitraum 7,7 Prozent

Gesundheitsdienstleistungen (Massagen etc.)

+ 73,4

 

 

Kfz-Steuer

+ 56,3

 

 

Zigaretten

+ 46,8

 

 

Brillen, Brillengläser

+ 43,9

 

 

Häusliche Altenund Behindertenpflege

+ 39,9

 

 

Tageszeitung, Einzelverkauf, überregional

+ 35,2

 

 

Rechtsschutzversicherung

+ 32,9

 

 

Dieselkraftstoff

+ 30,3

 

 

Eintritt Vergnügungspark

+30,2

 

 

Strom, Monatsverbrauch 1000 kWh

+ 29,0

 

 

Bankgebühren

+ 24,5

 

 

Bienenhonig

+ 23,9

 

 

Wochenzeitschrift, Kiosk

+ 22,1

 

 

Vollmilchschokolade

+ 19,8

 

 

Medikamente (inkl. Rezepte.)

+ 19,8

 

 

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