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echte Liebe hat jene Kraft, die die Unsterblichkeit schafft. Um das Wesen der Liebe zu erklären, geht Solowjow von einer stark metaphysischen Annahme der Existenz im Sein der „Energie des Schöpfens“ aus, an der menschliche Liebe beteiligt ist. Dieser Gedanke lässt sich aus der ganzen Logik des philosophischen Systems von Solowjow verstehen: Es gibt einen im Geist Gottes vorweggenommenen Zustand der Vollkommenheit der materiellen Welt, doch in unserer Realität existiert ein solcher in der Ewigkeit schon realisierter Plan als eine Energie des weiteren Schöpfens, die in der ganzen Natur vorhanden ist. Dieser Plan ist aber nicht nur eine Substanz, sondern auch ein Subjekt, ein Wesen mit weiblichem Genus – eine Weltseele oder Sofija. Die sich gegenseitig liebenden menschlichen Wesen sehen in seinem (ihrem) Gegenüber eine verwandelte Gestalt des Partners in seiner (ihrer) Vollkommenheit: So orientiert sich die Liebe nicht am heutigen, sondern am zukünftigen Zustand der Welt. Das Erreichen dieser Vollkommenheit kann ein Resultat der vereinten Kräfte der gesamten menschlichen Gattung mit der versöhnte Natur sein (der äußeren wie auch der inneren), also fordert Solowjow von den Liebenden, um die Liebe zu erhalten (und diese nicht nach maximal 4 Jahren gemeinsamen Lebens zu verwirken, wie unsere Lebenserfahrung zeigt), sich an der Verwandlung der Welt schöpferisch zu beteiligen, was ein vollwertiges Leben in allen seinen Aspekten (einschließlich der Tätigkeit in sozialen Institutionen) voraussetzt1.

Somit eröffnet die Konzeption der soziokulturellen Dynamik von Sorokin (die in der Tradition der russischen Philosophie steht, was der Vergleich mit der Philosophie der Liebe von Solowjow zum Ausdruck bringt) eine Möglichkeit, die in den Werken von Habermas und Honneth festgestellten sozialen Pathologien aus der Orientierung auf leibliche Genüsse zu erklären: Die unvollendete Evolution des moralischen Bewusstseins der Mehrheit der Mitglieder heutiger Gesellschaften, das Vorhandensein der einseitigen Personentypen des „Fachmenschen ohne Geist“ und des „Genussmenschen ohne Herz“ (Max Weber), die Unfähigkeit, in die tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen einzugehen, die Desorientierung der Lebensweise usw. Diese Konzeption gibt eine weitere Chance, die abstrakte Konstruktion der

1

Besonders klar sind die Solowjows Gedanken ausgedrückt: im zweiten Abschnitt

 

 

(S. 20–36), im dritten Abschnitt Untergliederung IV (S. 50–54), auf S. 65–67 (über das

 

Streben zur Unsterblichkeit als das „erste Elemente in der Liebe“), auf S. 69 und S. 73–77

 

(über die Erfahrung der Liebe als das Erfassen des göttliches Elementes in ihrem Partner

 

(seiner Partnerin)), S. 77–80 (Metaphysik der „des ewig Weiblichen“ – Leser werden sich

 

in diesem Zusammenhang an die letzten Zeilen von Goethes „Faust“ erinnern können),

 

S. 85–89 (über die Notwendigkeit der Versöhnung der Menschen mit der Natur als die

 

entscheidende Bedingung der Bewahrung der Liebe), S. 95–100 (über die Notwendigkeit

 

der schöpferischen Teilnahme der Liebenden an sozialen Institutionen und die echten

 

Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft auf dieser Grundlage),

 

S. 100–102 (über die kosmische Perspektive und Aufgaben der echten Liebe).

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unbegrenzten kommunikativen Gemeinschaft mit einem konkreten Inhalt zu füllen: Es geht darum, ein neues Verständnis der geistigen Traditionen zu erlangen – d.h. nach einer neuen „integralen“ (Sorokin) soziokulturellen Ordnung zu streben, die auf der Liebe als ihrem Integrationsprinzip gründen wird, wobei diese Aufgabe im Maßstab der Globalisierung zu lösen ist. In diesem Zusammenhang erlaubt diese Konzeption, eine weitere soziale Institution zu sehen, die in sich das Potential birgt, zur Verwirklichung der unbegrenzten kommunikativen Gemeinschaft beizutragen: d.h. die Gemeinschaft der Gläubigen (diesen Gedanke hat Habermas auch andeutungsweise in seinem Artikel über die religiöse Philosophie von Immanuel Kant geäußert: Habermas Jürgen, 2005 b, S. 232–236). Hier ist ein Vorschlag des späten Habermas über den Diskurs zwischen Gläubigen und säkular eingestellten Bürgern erhellend: Dieser Diskurs wird auf der Seite der Gläubigen kognitive Einstellungen der Toleranz und der Mäßigung ihrer fundamentalistischen Ansprüche erfordern, auf der Seite der weltlich orientierten Gesellschaftsmitglieder die Bereitschaft wecken, wichtige Gehalte aus der religiösen in eine allgemein zugängliche Sprache zu übersetzen (Habermas, 2005 a, S. 127–128, 143–144, 149–150).

Im Zusammenhang mit diesem Vorschlag können wir in den entsprechenden Gemeinschaften einen weiteren Adressat der kritischen Theorie finden. Die Gemeinschaften der Gläubigen können in der heutigen Gesellschaft ein Keim zwischenmenschlicher Beziehungen sein, die auf der Liebe als Agape gründen – einem immanenten Wert, an dem die Mitglieder dieser Gemeinschaften ihr Handeln orientieren. Daher verdienen sie, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken, weil wir darin noch einen universellen Wert als Ausdruck der Vernunft sehen können, der in den modernen Institutionen schon verwirklicht ist1 – die Liebe in der Form des Eros ist dabei schon in der Familie verkörpert, in der Form der Philia – sowohl in der Freundschaft als auch in der Kunst, oder unter ihren eigenen Aspekten in der Erkenntnispraxis und in der Philosophie; es handelt sich hier gerade um einen Bereich der Verwirklichung der Liebe als geschwisterliche Liebe. Daraus folgt aber, dass die „agnostische“ und „nachmetaphysische“ Einstellung des heutigen Weltverständnisses fallibel sein kann, weil aufgrund der Erfahrungen der Liebe in der Form der Agape neue Erkenntnisse und Intuitionen erreichen werden können, die den engen Rahmen des Verständnisses unserer existentiellen Orientierungen, was sich aus den Erfahrungen unseres Lebens in den Rahmen der die Gnade der Liebe baren Instituten ergibt, sprengen können2.

1

Hier verwendet der Autor des vorliegenden Artikels eine von Honneth in seinem

 

 

jüngsten Buch (2011) ausgearbeitete Methodologie des Begreifens der modernen

 

institutionellen Grundlagen unter dem Aspekt der in ihnen verwirklichten universellen

 

Werte und Normen als Bekundungen der der Gesellschaft immanenten praktischen

 

Vernunft.

2Rainer Forst schlägt in seinem Buch „Das Recht auf Rechtfertigung“ vor, sich von

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(3) Eine dritte und letzte Frage, die in diesem Kapitel behandelt wird, betrifft die Zusammenhänge zwischen dem System und der Lebenswelt in der Moderne. Gemäß der Habermas’sche Theorie war die Abkoppelung des Systems von der Lebenswelt durch die Evolution des moralisch-rechtlichen Bewusstseins vorbereitet – es ist das postkonventionelle Stadium erreicht: Von nun an orientiert sich das moralische Bewusstsein an universellen Prinzipien, und das rechtliche Bewusstsein trennt sich vom moralischen (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 260–261, 266–267). So entsteht in der kapitalistischen Gesellschaft ein gegenüber der traditionellen Sittlichkeit neutraler Bereich von strategischen Handlungen, der in der Lebenswelt durch das formale Recht verankert wird – das gesellschaftliche System, das aus den Subsystemen der Wirtschaft und der Politik besteht. Habermas charakterisiert das System als einen Komplex der „formal-organisierten Handlungsbereiche“, in denen die Interaktionensteilnehmer zu ihrer Tätigkeit und zueinander eine kognitivinstrumentelle Einstellung einnehmen: Die entscheidende Rolle für sie spielt dabei das Interesse der Sache (des Unternehmens) selbst, alles andere ist ihm

den Inhalten der von religiösen und metaphysischen Traditionen gegebenen Antworten über unsere existentielle Lebensorientierungen in einer agnostischer Einstellung zu distanzieren: „Scheinbar paradox ausgedrückt heißt es, dass die Theorie der Gerechtigkeit dem Guten umso gerechter wird, je weniger sie auf bestimmten Begriffen des Guten beruht“ (Forst, 2007 b, S. 182). Auch auf die S. 97: für die endliche praktische Vernunft ist „kein Zugriff auf eine metaphysische Welt der Gründe möglich (zumindest nicht auf erkennbare Weise)“ (Forst, 2007 a, S. 97). Hier müssen wir uns jedoch, um logisch konsequent zu sein, auch von unseren Trieben zu leiblichen Genüssen distanzieren, was aber unmöglich ist, weil diese eine stärkere Macht über uns haben als die Forderungen der Vernunft, und nur durch die Kultivierung der auf universellen Prinzipien orientierenden Vernunft aufgehoben werden können. Das ist eine weltbekannte Kantsche Perspektive, und die Erfahrung der Liebe in all ihren inhaltlichen Dimensionen kann sogar integraler sein, weil sie den Menschen nicht nur durch seine Vernunft, sondern auch als ein einheitliches (sinnliches, wollendes, vernünftiges) Wesen erhebt, wobei alle diese Dimensionen der Menschen nicht unterdrückt und hierarchisch der Vernunft untergeordnet werden, sondern sich durch ihre Synthese in etwas qualitativ Neues verwandeln. So sind die metaphysische Überlegungen hier angemessen, weil sie den Menschen in einer übersinnlicher Realität verwurzeln (die sinnlich wahrnehmbare Realität ist dabei nur eine der Dimensionen des Menschen in seiner Totalität). Diese Idee des „wahren Menschen“, der „in allen von uns geeint und in jedem von uns ganz einheitlich ist“ (Grigorij Skovoroda (1722–1794), der Begründer der ukrainischen Philosophie, in englischer Übersetzung: “The true man ... is one in all of us and whole in each” (Zenkovsky, 1953, P. 62)), ist eine der wichtigsten Eingebungen der russischen philosophischen Kultur, und diese Idee hat das Potential, das westliche Denken mit dem östlichen zu verbinden. Hier geht es gerade um die Möglichkeit des Diskurses über metaphysische Grundlagen der geistlichen Traditionen, vielleicht, um die einer neuer Form des Diskurses, der zur Toleranz aufgrund der inhaltlichen Durchdringung verschiedener geistlichen Traditionen (nicht nur aufgrund ihrer äußeren gegenseitigen Abgrenzung) führen kann, und einer agnostischen Position kann diese Möglichkeit vermeiden.

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untergeordnet, und so ist ein Kriterium des sozialen Status des Menschen sein funktioneller Beitrag zur Tätigkeit der Systeminstitutionen; für den einzelnen Menschen verbindet sich seinerseits „die fachlich intelligente Anpassung an das versachlichte Milieu großer Organisationen mit einer utilitaristischen Berechnung der eigenen Interessen“ (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 478).

Das abgekoppelte System beginnt aber, einen umgekehrten Einfluss auf die Lebenswelt auszuüben – es bewirkt eine „Mediatisierung“, d.h. erzeugt in ihr die sozialen Rollen des Arbeiters und des Konsumenten im privaten, des Klienten und des Staatsbürgers im öffentlichen Bereich (in einer Tabelle auf S. 473 zeigt Habermas die Beziehungen zwischen diesen soziale Rollen und den ökonomischen und administrativen Subsystemen und analysiert sie ausführlich in den Kommentaren). Wenn das System beginnt, alle lebensweltlichen Ressourcen für die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben der Selbsterhaltung und der Komplexitätssteigerung zu mobilisieren, dann überschreitet die Mediatisierung die Grenze der Normalität und verwandelt sich in eine „Kolonisierung“ (Habermas, 1987, Bd. 2., S. 293, 477, 483–484). Die verschiedenar-tigen Formen der sozialen Pathologien als Folgen dieser Kolonisierung soll hier nicht beschrieben werden, es sei nur an die berühmte Formulierung von Habermas erinnert: Die Konflikte in der Gesellschaft konzentrieren sich jetzt nicht an den Systemproblemen der Verteilung der erzeugten Güter, sondern sind durch die Fragen „der Grammatik der Lebensformen“ bestimmt (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 576).

Hier taucht aber die Frage der Universalität von Habermas’ Beschreibung der Zusammenhänge zwischen dem System und der Lebenswelt in der Moderne auf. Es geht darum, dass innerhalb des Systems eine Hierarchie besteht: In der westlichen kapitalistischen Gesellschaft spielt das ökonomische Subsystem eine führende Rolle (Habermas selbst spricht von einer „ökonomisch konstituierten Klassengesellschaft” (Habermas, 1987, Bd. 2, S. 248 in der Tabelle) – gerade dieses Subsystem wandelt das politische um und beginnt darüber hinaus, in einer Allianz mit ihm, einen kolonisierenden Einfluss auf die Lebenswelt auszuüben. Wenn aber die Subsysteme im umgekehrten Verhältnis zueinander stehen – d.h. das politische Subsystem dominiert das ökonomische und übt einen entscheidenden Einfluss auf die Lebenswelt aus, – dann hört die Habermas’sche Theorie auf, zu wirken. Somit ist die Tragweite dieser Theorie in der westlichen Gesellschaft lokalisiert, und so ist eine konzeptuelle Ergänzung erforderlich. Zweitens trägt Habermas’ Theorie dem Globalisierungsprozess und der Integration der nationalen Gesellschaftssysteme in das globale Übersystem nur wenig Rechnung (was sich besonders in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften bemerkbar macht) (Celicates und Pollmann, 2006, S. 105).

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Gibt es eine Theorie, die zur Überwindung dieser beiden konzeptuellen Schwierigkeiten des Habermasschen beitragen kann?

Eine solche Theorie gibt es, und sie stammt von einem der größten russischen Soziologen und einem der größten Logiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Alexander Sinowjew, der, wie zuvor bereits Pitirim Sorokin, 1978 (als Dissident) auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere aus der UdSSR ausgewiesen wurde; er lebte und arbeitete in Deutschland, zuerst in Frankfurt am Main, dann in München, 1999 kehrte er nach Moskau zurück und war dort in seinen letzten 7 Lebensjahren (er ist 2006 gestorben) auch sehr erfolgreich (und wohl auch sehr pessimistisch). Bis zum Zerfall der Sowjetunion erarbeitete er (neben seinen logistischen Studien) eine wissenschaftliche Theorie der sowjetische Gesellschaft, dank der er im Westen bekannt ist, und Mitte der 1990-er Jahre hatte er damit begonnen, eine umfassende kritische Theorie des Globalisierungsprozesses zu erarbeiten und die „Russische Tragödie“ (dies ist der Titel eines seiner letzten Bücher) der Niederlage des kommunistischen Experiments und des Zerfalls des großen Staates zu erfassen, wobei der späte Sinowjew im Westen fast unbekannt ist. Hier sollen nur einige Gedanken dieses Autors systematisch dargestellt werden – unter dem Aspekt, wie sie die Habermas‘sche Theorie ergänzen und einen Beitrag zur Überwindung von Rezeptionsschwierigkeiten leisten können.

In den letzten Jahrhunderten (seit der Epoche Peters des Großen) spielte in Russland die Staatsbürokratie eine modernisierende Rolle. Sie musste, nach Erhaltung und nach Steigerung ihrer Herrschaft strebend, vor allem im Bereich der technischen Entwicklung den Abstand zu den westliche Ländern aufholen, was nur durch verschiedene Formen der Mobilisierung der lebensweltlichen Ressourcen möglich war. Zuerst hat die herrschende Klasse den Weg der Verschärfung der Leibeigenschaft und der Vergrößerung der Last der Kopfsteuer für den Staat und der Fronarbeit für den Adel beschritten (in der Zeit Peters des Großen waren diese Prozesse besonders ausgeprägt). Als sich dieser konservative Weg als aussichtslos erwies, wurden in den 60-er Jahre des 19. Jahrhunderts Reformen durchgeführt, die die Leibeigenschaft abgeschafft und die institutionellen Grundlagen für die Entwicklung des Kapitalismus gelegt haben, was (seit den 70-er Jahren des 19. Jahrhunderts) eine erste Welle der Industrialisierung zur Folge hatte. Wegen der feudalen Überbleibsel kam es jedoch dazu, dass alle Widersprüche der frühkapitalistischen Gesellschaft in der Resonanz mit den gesellschaftlichen Konflikten unter den Bedingungen des langwierigen Weltkrieges 1917 zur die Welt erschütternden Revolution geführt haben. Die Oktoberrevolution, bei all ihren weitreichenden Vorhaben, musste zuerst gerade diese Aufgabe der „nachholenden Modernisierung“ lösen; so lässt sich die Staatsbürokratie in der Stalin-Zeit mit der in der Epoche Peters des Großen vergleichen (nur war die Zahl der Opfer dieser „Modernisierung“ viel

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größer, weil es jetzt ein hartes totalitäres Regime gab). Wenn wir versuchen, eine Staatsbürokratie mit den traditionellen Klassen im Sinne der Marx’schen Analyse zu vergleichen, dann fällt vor allem das Fehlen des Privateigentums an Produktionsmitteln als ein entscheidendes Zeichen der Klasse ins Auge: Der Angestellte ist weder Eigentümer des von ihm geleiteten Betriebs oder der Organisation noch Inhaber seines Amtes, aber die ganze Gemeinschaft der Bürokraten tritt als ein kollektiver Disponent über die Ergebnisse der Tätigkeit der gesamten ihr unterstellten Gesellschaft auf, d.h. die Bürokratie monopolisiert eine Funktion der Verteilung der erzeugten Güter, was als eine wichtige Bedingung die Konzentration aller Produktionskräfte gerade im staatlichen Bereich hat (was konsequent nur in der Sowjetunion realisiert wurde). Diese Verteilung vollzieht sich innerhalb der Gemeinschaft der Bürokratie nach dem Platz in der Rangordnung, außerhalb dieser Gemeinschaft – gemäß den Zielen, die der Herrscher gestellt hat. Wie bereits ausgeführt wurde, bildete das Hauptziel in der Stalin-Epoche die Modernisierung im Sinne der Industrialisierung. Dazu hatte man entschieden, gewaltsam einen größeren Teil der traditionellen Institutionen (vor allem die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe) zu zerstören; so wurde die Mehrheit der Bauern in die neugegründeten Städte umgesiedelt. Ein wichtiges Ergebnis dieses Prozesses war die Änderung der Form der kollektiven Institute in Russland: An die Stelle der bäuerlichen Gemeinschaft trat das sowjetische Kollektiv1.

Zur Beschreibung der Zusammenhänge innerhalb dieses Kollektivs hat Sinowjew den Begriff der Kommunalität verwendet – das war eine Neuerung in den Gesellschaftswissenschaften, weil dieser Typ unter den in der westlichen Soziologie bekannten Handlungstypen fehlte. Man kann die Kommunalität in ihrer Darstellung von Sinowjew als ein Ergebnis der Wirkung auf die Lebenswelt der russischen Zivilisation des staatlichen Subsystems betrachten, das im Gang der Modernisierung in ihrer russischen Variante von ihr abgekoppelt ist. Für das kommunale Handeln ist wesentlich, dass die Ziele der Tätigkeit aller Mitglieder des Kollektives von dessen Leiter gestellt werden und die Unterstellten den Willen des Leiters nur auf ihrem eigenen Arbeitsgebiet verstehen können; die Ergebnisse der Tätigkeit werden vom Leiter nach den vom Willen seines übergeordneten Chefs bestimmten Kriterien eingeschätzt; somit ist die Zielsetzung, im Unterschied zu den zweckrationalen Handlungen (wenn wir den idealen Typ der Kommunalität betrachten), von der höchsten Spitze der Verwaltungshierarhie vorgegeben und in der Form von keinem

1

Die Ergebnisse dieser historischen Analyse, die in diesem Absatz um der

 

 

Folgerichtigkeit willen dargelegt sind, stammen nicht von Alexander Sinowjew (für ihn

 

war die Geschichte nie eine starke Seite), sondern von Viktor Makarenko – einem der

 

größten Spezialisten im postsowjetischen Russland auf dem Gebiet der Geschichte und

 

des sozialen Wesens der Bürokratie, siehe z.B.: Makarenko, Viktor 1998 (dieses Buch

 

wurde bereits erwähnt). Siehe auch: Voslensky, 1987, S. 180–194. Ab dem nächsten

 

Absatz beginnt die Darstellung der Analyse von Sinowjew selbst.

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Zweifel unterliegenden Anordnungen nach unten weitergegeben. Die konkreten Arbeiter oder Angestellten werden hier so intensiv und qualitativ arbeiten, wie die Obrigkeit dies verlangt, und beim Fehlen konkreter Anordnungen hören sie auf, ihre funktionellen Pflichten auszuüben, und beginnen den gegenseitigen Kampf für das Erreichen des höheren Status innerhalb des Kollektivs. Dieser von komplizierten Intrigen erfüllte Kampf ist ein zweites Merkmal der Kommunalität, und Sinowjew schlägt vor, den Charakter dieses Kampfes mit Hilfe des Begriffs der Prävention zu beschreiben. Die Prävention ist ein der Konkurrenz entgegengesetzten Mechanismus: Es geht dabei nicht darum, im Wettbewerb mit anderen Teilnehmern des Kollektivs durch die bessere Erfüllung seiner funktionellen Verpflichtungen zu gewinnen, sondern darum, anderen im Wege zu stehen und sie daran zu hindern, das Wohlwollen des Leiters zu genießen. Nach der Logik der Prävention führen alle Teilnehmer eines Kollektivs einen Kampf um soziale Ränge, die sich nach der Größe der jeweiligen Güter im Prozess ihrer Verteilung voneinander unterscheiden, und innerhalb eines Ranges um eine Position, die dem Leiter möglichst nahe ist (das rangmäßige Prinzip der Güterverteilung ist gerade die Gerechtigkeit, in der Wahrnehmung von Mitgliedern kommunaler Organisationen). Dieser Kampf hat keine moralischen Beschränkungen, sondern nur eine einzige Begrenzung – die Angst, dass der andere mir etwas Schlechteres antut, wenn seine soziale Lage besser ist als meine eigene (Sinowjew meint in diesem Zusammenhang, dass man nicht vermuten kann, dass die Teilnehmer der kommunalen Strukturen unmoralisch sind, sie befinden sich nur unter solchen Bedingungen, dass sie einen alltäglichen Kampf um die immer knapper werdenden Ressourcen führen müssen). Eine der wichtigsten Funktionen des Leiters ist, diese kommunalen Beziehungen in einem engen Rahmen zu halten, damit sie nicht bei der Erfüllung der Aufgaben des Kollektivs stören. Der Übergang von einem Rang zu einem höheren vollzieht sich in der Regel durch langjährige Dienste, ausnahmsweise auch nach dem Willen eines übergeordneten Vorgesetzten.

Ein drittes Merkmal der Kommunalität ist ihre Alternativlosigkeit: Für das Individuum gibt es keine Möglichkeit, sich dem Eintritt in irgendeine kommunale Organisation oder innerhalb des Kollektivs dem Kampf nach dem Gesetz der Prävention zu entziehen, weil diese Kollektive aus den Bruchstücken der gewaltsam (durch soziale Kataklysmen) zerstörten traditionellen Lebensformen entstanden sind; es gibt keine anderen sozialen Institutionen außerhalb der kommunalen, und das freiwillige Ausscheiden aus dem Kollektiv bedeutet nur das Fallen von der besseren Stufe der sozialen Hierarchie in die schlechtere (wo sich Kollektive mit einem niedrigeren Rang befinden) oder eine Marginalisierung des betreffenden Individuums. Übrigens wird eine bestimmte Person von einem Kollektiv manchmal bewusst zum „Kollektivfremden“ erklärt, um damit seine „Gruppenmacht“ zu demonstrieren. Ein solcher Mensch wird von allen möglichen Formen des sozialen Schutzes beraubt, das gerade in

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seiner Zugehörigkeit zu einem Kollektiv besteht, und wird für jeden Schlag seiner negativen sozialen Umgebung offen, von den Huligans bis zu Behörden, die an ihm ihr Willkür ausüben.

Und schließlich besteht ein viertes Kennzeichnen der Kommunalität in der großen Rolle der symbolischen Einwirkung auf das Bewusstsein aller Personen, die sich in Gestalt der an eine Quasi-Religion erinnernden Rituale vollzieht. Das Ziel dieser Einwirkung (für die die Jugend besonders empfänglich ist) war die Herausbildung immaterieller Werte im Bewusstsein der Kollektivmitglieder, an denen ihre Tätigkeit sich orientieren sollte, z.B. ein Sieg im „sozialistischen Wettbewerb“ (letzterer stand im Widerspruch zu den Gesetzen der Prävention, weshalb die Form propagandistischer Kampagnen gewählt wurde, mit deren Hilfe die Staatsbürokratie versucht hat, einen äußeren Einfluss auf die kommunalen Beziehungen auszuüben, um die für die Kommunalität charakteristische Gleichgültigkeit und das Desinteresse an den Ergebnissen der eigenen Tätigkeit der Kollektivmitglieder zu überwinden). Ein zweites Ziel, das der massiven ideologischen Beeinflussung diente, war die Suggestion, dass das Kollektiv und der Staat die Priorität über den Einzelnen haben. Diese Suggestion hatte die Funktion einer symbolischen Verankerung des Strebens der kommunalen Beziehungen zur totalen Unterwerfung des Einzelnen: Denn jemand, der begonnen hat, sich von der Macht des Kollektivs zu befreien, stellt eine Bedrohung der kommunalen Beziehungen dar.

Gerade die kommunalen Beziehungen waren ein integrierendes Moment in der sowjetischen Gesellschaft. Ungeachtet dessen, dass die Staatsbürokratie von der übrigen Gesellschaft durch einen Komplex von Privilegien (im Sinne der zu verteilenden Güter) und durch die Machtsausübung getrennt wurde und deren Mitglieder sich von Jugend an zu „Fachleuten in der Administration“ verwandelt hatten, wurde die Logik des Zusammenhalts innerhalb dieser gesellschaftlichen Gruppe vollständig durch die Gesetze der Kommunalität bestimmt. Somit tendierte die Kolonisation der Lebenswelt in der UdSSR zur Verwandlung der Gesellschaft in eine einzige riesige Staatsorganisation – und allen Menschen zur Verwandlung in den Staatsdiensten mit verschiedenen Rängen (mit der klaren Aufteilung in die sogenannte kommunistischbürokratische „Nomenklatur“ und alle anderen, die in Wirklichkeit für erstere gearbeitet haben). Diese Beschreibung der Zusammenhänge zwischen dem System und der Lebenswelt in Sowjetrussland vermag die auf die westlichen Erfahrungen konzentrierte Habermas‘sche Analyse zu ergänzen1.

1

Die ganze Beschreibung der Kommunalität ist aufgrund des Werkes von

 

 

Alexander Sino-wjew (1981) vorgenommen worden, siehe: S. 91–116 (eine Beschreibung

 

der Kommunalität im allgemeinem, besonders – Abschnitte über das „kommunale

 

Verhalten“ und über die „kommunalen Beziehungen“ (S. 111–117, S. 115 f. – eine

 

Beschreibung der Prävention)), S. 117–130 (über die kommunale Prinzipien der Macht

 

und die Herrschaft der kommunalen Gesetze im Bereich der Staatsbürokratie), S. 175–177

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Exkurs. Hier entsteht eine radikale Frage: Inwiefern ist die Habermas’sche Analyse der Gesellschaft als die Einheit des Systems und der Lebenswelt an russische Gesellschaft überhaupt und an der sowjetische Periode in ihrer Geschichte im Besonderen anwendbar, weil der Inhalt dieser beiden Bereiche im Vergleich damit anders sein kann, wovon in seiner Analyse ausgegangen wird. Es ist evident, dass diese Fragestellung ein Ausgang der Untersuchung in einem anderen Problemfeld bedeutet. Für eine Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, die Ergebnisse der Diskussion über das „asiatischen Produktionsweise“ innerhalb der marxistischen Denktradition einzubeziehen: in Deutschland ist diese Diskussion durch das bekannte Buch von Rudi Dutschke initiiert (Dutschke, 1984, besonders S. 43–71, 88–115), in Russland wurde diese Diskussion auch seit den 1970-er Jahren geführt (das schon einbezogene Buch von Makarenko 1998 ist eines der bekanntesten innerhalb dieser Tradition), wobei diese Diskussionen in der Tat die Fortsetzung der bekannten Auseinandersetzungen der Philosophen und Gesellschaftwissenschaftler des 19. Jahrhundert zur einer der bedeutendsten Fragen der russischen Sozialphilosophie: „Wer sind wir Russen?” darstellen. Zweitens ist es notwendig, einzuschätzen, ob die sowjetische Gesellschaftsordnung als solche eine der alternativen Versionen des Modernisierungsprozesses selbst ist, die, bei allen ihren Spezifika, innerhalb dieses welthistorischen Prozesses vorbereitet worden war und eine originelle, wenngleich auch nicht gelungene, Antwort auf seine latenten Konflikte und Widersprüche und auch eine Fortsetzung der in der Moderne selbst angelegten Tendenzen ist – d.h. der Imperialismustendenz, im Sinne der Konzentration aller sozialen Ressourcen in den Händen des Staates mit dem Ziel der Überwindung der Drohungen von außen oder der Konflikte von innen, die für die Gesellschaft zerstörerisch sind. Dieser Ansatz ist in den Werken von Johann Arnason (1996 und 1998) präsent, wobei er seine Analyse der Modernisierung als die Fortsetzung der Ideen von Habermas beschreibt (Arnason, 1996, S. 155).

(über die kommunale Beziehung zur Arbeit), S. 194–197 (über die Prävention – dieser Begriff Sinowjews ist ins Deutsche als „Behinderung“ übersetzt, was nicht gelungen ist, weil bei dem russischen Philosophen die Hervorhebung des Gegensatzes dieser Form des sozialen Kampfes mit der der Konkurrenz wichtig ist), S. 197–199 (über das Primat des Kollektivs über den Einzelnen als ein wichtiges Gesetz kommunaler Ordnungen), S. 207 f. (über die Universalität der kommunalen Ordnungen in der kommunistischen Gesellschaft), S. 232–243 (über die Anatomie der kommunalen Macht), 270 f. (über die Verwaltung nach dem Prinzip „von oben nach unten“ als einzig mögliche wirksame Form der Verwaltung in dieser Gesellschaft), S. 281–291 (über das Prinzip der Verteilung „jedem nach seiner sozialer Stellung“), S. 319–325 (über die Zielsetzung in der kommunalen Gesellschaft in der Form der allumfassenden Planung), S. 373–388 (über die Rolle der Ideologie, besonders auf

S. 373–376 – „Die Ideologie als Anleitung zum Handeln“), S. 395–412 (die Beschreibung der kommunalen Gesellschaft im ganzen und ihrer Haupttendenzen der Entwicklung).

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Hier kann man nur kurz bemerken, dass der Habermas’sche Ansatz in den Bedingungen der maximalen Konzentration aller ökonomischen, politischen und kulturellen Macht in den Händen der Staatsbürokratie mit dem Diktator an der Spitze aufhört, überhaupt zu arbeiten, weil das System und die Lebenswelt eine nicht auflösbare Fusion darstellen, worin sie sich in etwas qualitativ Neues verwandeln. In diesen Zusammenhängen wird die Kategorie des kommunalen Handelns von Sinowjew zu eine echten konzeptuelle Neuerung in der Handlungstheorie (und nicht nur eine empirische Generalisation): sie verweist auf besondere gesellschaftliche Zustände, bei denen individuelle Subjekte zu untrennbaren Elementen der kollektiven Subjekte werden, und die weltberühmte Formel von Descartes “cogito, ergo sum” die Möglichkeit erhält, so erläutert zu sein, dass der Denkensprozess (im breiten Sinn des Wortes „Denken“) bereits nicht mehr individuell ist, sondern kollektiv wird. Für den unbeteiligten Beobachter, der danach strebt, seine individuelle Subjektivität zu erhalten, wird das als eine kollektive Ekstase (oder ein kollektiver Traum) erscheinen, also als eine der Formen des mythologischen Bewusstseins: Auch nach Arnason war die Ideologie als eine eigenartige säkulare Religion einer der integrierenden Momente der sowjetischen Gesellschaft (Arnason, 1998, S. 29–30), und nach Sinowjew ist die sowjetische Gesellschaft ohne Ideologie, die, besonders in der Stalin-Zeit, als eine eindeutige Orientierung des Lebens auf die „lichte Zukunft“ gegeben war, überhaupt nicht zu verstehen (Sinowjew, 2006 a, S. 204–206). Unter den Bedingungen der Schwächung der staatlichen Macht und des Zugeständnisses in einigen Bereichen (z.B. der Kultur) einer begrenzten Freiheit, wie dies im gegenwärtigen Russland der Fall ist, lässt sich ein System und eine Lebenswelt in deren westlichem Verständnis finden und ihre gegenseitigen Beziehungen aufgrund der Habermas’sche Konzeption erforschen.

Um zu verstehen, was weiterhin passierte und welche Folge die Perestroika und die Transformation Russlands am Ende des 20. Jahrhunderts für diese Zusammenhänge hatte, soll hier Alexander Sinowjews kritische Theorie der Globalisierung einbezogen werden, die dieser in seinen letzten Werken dargelegt hat: Sinowjew, (2003 a), (2004), (2006 a und 2006 b), (2007).

Der russische Sozialphilosoph geht von der Voraussetzung aus, dass eine der wichtigsten Bedingungen der normalen Entwicklung des westlichen Kapitalismus die Teilung der Menschheit in zwei Gruppen ist: Metropolländer und koloniale Länder, wobei Kolonisierung für Sinowjew in erster Linie nicht den politischen Aspekt des Entzugs der politischen Unabhängigkeit bedeutet, sondern den ökonomischen Aspekt der prinzipiell ungleichberechtigten Beziehungen: Metropolländer benutzen die natürlichen Ressourcen der abhängigen Länder ohne das adäquate Entgelt ihres Wertes, exportieren in diese

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