Deutsche_Stilistik
.pdfBernhard Sowinski
Deutsche Stilistik
Beobachtungen zur Sprachverwendung
und Sprachgestaltung im Deutschen
Fischer
Taschenbuch
Verlag
Inhalt
Sprachsystem und Sprachverwendung |
9 |
Der Begriff des Sprachstils |
12 |
Stil als sprachlicher Schmuck |
13 |
Stil als individuelle Eigenart des Sprachausdrucks |
14 |
Stil als Spiegelung psychischen Erlebens |
15 |
Stil als Einheit der künstlerischen Gestaltung |
16 |
Stil als Abweichung von einer Norm |
17 |
Stil als zeit-und gruppengebundener Sprachausdruck |
18 |
Stil als gattungsgebundene Ausdrucksweise |
19 |
Stil als funktionale Redeweise |
20 |
Stil als Auswahl zwischen mehreren sprachlichen Möglichkeiten |
22 |
Stil als Gesamtheit quantitativer Merkmale |
26 |
Stil als Auswirkung besonderer grammatischer Regeln |
27 |
Stil als Teil der Textbedeutung |
28 |
Stil als besondere Form der Textrezeption |
29 |
Stilistische Prinzipien und Möglichkeiten der Textgestaltung |
31 |
Zum Begriff des Textes |
31 |
Stilistische Erfordernisse der Textgestaltung |
37 |
Folgerichtigkeit |
37 |
Klarheit |
42 |
Anschaulichkeit |
45 |
Variation und Wechsel |
53 |
Die Wiederholung als Stilfehler und Stilmittel |
57 |
Angemessenheit |
66 |
Gewandtheit |
67 |
Einheitlichkeit |
69 |
Glaubwürdigkeit |
71 |
Stilmittel im Rahmen des Satzbaus |
74 |
Zum Begriff der Stilmittel und ihrer Werthaltigkeit |
74 |
Stilistische Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des Satzbaus |
75 |
Der Satzumfang als stilistisches Mittel |
76 |
Der kurze Satz |
77 |
Der Satz mittlerer Länge |
80 |
Lange Sätze |
81 |
Erweiterte Sätze |
82 |
Satzgefüge |
83 |
Satzund Satzgliedreihungen |
86 |
Die stilistische Bedeutung der Satzarten |
90 |
Der Aussagesatz |
91 |
Der Ausrufesatz |
92 |
Der Aufforderungssatz |
93 |
Der Fragesatz |
94 |
Die Wortstellung im Satz als stilistisches Mittel |
97 |
Satzklammer und Ausklammerung |
101 |
Nachtrag und Spreizstellung |
105 |
Die Stellung der Attribute des Substantivs |
106 |
Stilistisch wichtige Abwandlungen der Satzgestaltung |
110 |
Veränderung einfacher Satzformen |
110 |
Reduktionen der Grundformen des Satzes |
111 |
Satzabbruch (Aposiopese) |
112 |
Auslassungen des finiten Verbs, des Objekts oder Subjekts |
114 |
Erweiterungen der Grundform |
120 |
Die Nominalgruppe |
121 |
Der Artikel |
121 |
Das erweiterte attributive Adjektiv |
122 |
Das Adverb zum Adjektivattribut |
123 |
Attributive Partizipien als Erweiterungen der Nominalgruppe |
124 |
Appositionen |
126 |
Substantivische Attribute |
127 |
Adverbialattribut |
128 |
Infinitivattribut |
129 |
Zusammenfassung zur Nominalgruppe |
129 |
Erweiterungen der Prädikatsgruppe im Satz |
131 |
Nominale Erweiterungen |
131 |
Nichtsubstantivische Prädikatserweiterungen |
132 |
Adjektive mit Infinitivkonstruktionen |
134 |
Erweiterung durch andere Verbkonstruktionen |
134 |
Unterbrechungen der Satzkonstruktion |
135 |
Prolepse |
135 |
Anakoluth |
137 |
Parenthese |
139 |
Nachtrag |
141 |
Umwandlungen der Satzform |
142 |
Satzglieder und Gliedsätze |
142 |
Die Satzgefüge |
146 |
Die Periode (mehrfach zusammengesetzter Satz) |
147 |
Die Redeformen als stilistische Gestaltungsweisen |
151 |
Satzzeichen und Typographie als Stilmittel |
157 |
Möglichkeiten der Umformung oder des Wechsels |
|
grammatischer Kategorien als Stilmittel |
162 |
Stilprobleme der Wortartendifferenzierung |
162 |
Stilistische Varianten in der Wortbildung der Wortarten |
165 |
Wechsel der Kasusrektionen |
167 |
Grammatische Varianten innerhalb des Verbsystems |
168 |
Möglichkeiten des Wechsels im Tempussystem |
169 |
Der Wechsel der Tempusformen im Deutschen |
170 |
Die stilistischen Besonderheiten der Tempusformen |
172 |
Präsens |
172 |
Perfekt |
176 |
Präteritum (Imperfekt) |
179 |
Plusquamperfekt (vollendete Vergangenheit) |
181 |
Futur |
182 |
Die Aussageweisen (Modi) als stilistische Mittel |
184 |
Der Indikativ |
185 |
Der Konjunktiv |
185 |
Aktiv und Passiv |
193 |
Die Verwendung des Passivs |
195 |
Weitere grammatisch-stilistische Varianten |
197 |
Stilmittel des Wortschatzes |
199 |
Die Bedeutung der Wortwahl für den Sprachstil |
199 |
Wort und Wortbedeutung als Stilmittel |
199 |
Kommunikative und stilistische Erfordernisse |
|
der Wortwahl |
201 |
Die funktionale und stilistische Ditterenzierung des Wortschatzes |
|
und die Stilwerte der Wortgruppen |
203 |
Wortbildungstypen als Stilmittel |
206 |
Wörter mit gleichem Wortstamm als Stilmittel |
212 |
Wortarten als Stilmittel |
213 |
Das Substantiv als Stilmittel |
214 |
Substantivische Wortbildungen |
217 |
Substantivischer Stil |
219 |
Stilwerte des Adjektivs |
220 |
Stilwerte des Verbs |
225 |
Der Stilwert des Adverbs |
230 |
Der Stilwert des Artikels |
233 |
Stilwerte der Personalund Possessivpronomen |
235 |
Stilwerte des allgemeinen und des besonderen |
|
Wortschatzes |
237 |
Der allgemeine Wortschatz der Schriftsprache |
238 |
Die Gruppen des besonderen Wortschatzes |
238 |
Stilfärbungen |
240 |
Wörter mit besonderer Zeitgeltung |
241 |
Der Fachwortschatz und seine stilistische Bedeutung |
245 |
Stilwerte des landschaftlich gebundenen Wortschatzes |
247 |
Stileinheit und Gruppenwortschatz |
248 |
Fremdwörter als Stilmittel |
249 |
Die Bildlichkeit im Wortschatz als Stilmittel |
255 |
Unmittelbare sprachliche Bilder |
255 |
Mittelbare sprachliche Bilder |
256 |
Der Vergleich |
257 |
DieMetapher |
257 |
Die Chiffre |
260 |
Personifikation und Synästhesie |
261 |
Allegorie und Symbol |
262 |
Umschreibungen (Periphrasen) |
263 |
Untertreibungen und Übertreibungen |
264 |
Wortkombinationen als Stilmittel |
266 |
Stilmittel der Lautung und des Rhythmus |
271 |
Lautung |
271 |
Rhythmus |
272 |
Das Zusammenwirken der Stilmittel |
275 |
Stilwerte und Stilzüge |
275 |
Stilzüge |
275 |
Stilzüge und »Ausdruckswerte« (Eindruckswerte) |
279 |
Textsorten als Stilformen |
280 |
Prosatextsorten und ihre stilistischen Besonderheiten |
281 |
Brieflich-mitteilende Formen |
281 |
Berichtende Formen |
284 |
Beschreibende Formen |
286 |
Erläuternde Texte |
289 |
Bindende Texte |
290 |
Ansprechende Texte |
291 |
Erörternde Texte |
293 |
Schildernde Texte |
295 |
Mischformen |
297 |
Stillehre |
299 |
Stilregeln und ihre Gültigkeit |
301 |
Stilpflege |
302 |
Stilkritik |
303 |
Stilanalyse und Stilinterpretation |
303 |
Anmerkungen |
307 |
Literatur zur Stilistik |
327 |
Glossar stilistischer Begriffe |
329 |
Sachregister |
337 |
Sprachsystem und Sprachverwendung
Die Sprache, die wichtigste Grundlage menschlichen Zusammenlebens, wird mehr und mehr zum Problem. Was uns bisher als das Selbstverständlichste erschien, ist heute nicht nur der Sprachwissenschaft, sondern auch anderen Wissenschaften und Denkbereichen, ›frag-würdig‹ geworden. Philosophen, die sich lange Zeit mit der Erkenntnisproblematik beschäftigt haben, reflektieren immer häufiger über die Beziehungen zwischen Sprache und Existenz; Naturwissenschaftler klagen über das Ungenügen der Sprache gegenüber neuen Erkenntnissen und sehen hier gewissermaßen eine zweite Relativitätstheorie wirksam; Theologen und Psychologen konstatieren eine zunehmende Sprachnot und Kontaktlosigkeit; Pädagogen und Soziologen erkennen in den »Sprachbarrieren« der sozialen Schichtung Bildungsschranken und soziale Ungleichheiten; Vertreter der modernen Lyrik suchen gewohnte und zur Schablone gewordene Sprachformen durch kühne Sprachexperimente zu sprengen, um neue Sinnbezüge zu ermöglichen, und die Politiker erfahren ständig die unterschiedliche Weltinterpretation, die in der Sprache evident wird, und mühen sich, das schwierige Unterfangen der Verständigung zwischen den Völkern und Gruppen zum Erfolg zu führen.
Der Sorge, durch die Sprache die Wirklichkeit zu verfehlen, auf der einen Seite steht auf der anderen Seite eine Überfülle an sprachlichen Mitteilungen für jeden Sprachbenutzer gegenüber, wie es sie zuvor nie gegeben hat. In den verschiedensten Medien der Kommunikation – als schmeichelnde Beschwörung oder unverhüllte Konfrontation, als verlockende Werbung oder als poltische Agitation, in Musik verpackt oder mit Bildern kombiniert – erreichen uns heute mehr sprachliche Informationen als jemals zuvor, und mancher fragt sich, ob diese Inflation der Worte nicht zu einem Schwund der Werte, der Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit unserer Aussagen führt.1
Die hier angedeuteten Einzelprobleme beziehen sich vor allem auf den Bereich der Sprachverwendung. Sie ist heute der wichtigste und schwierigste Sektor des sprachlichen Lebens und verlangt größere Aufmerksamkeit als bisher. Die Sprachwissenschaft (Linguistik) sucht der Bedeutung dieser Fragen durch eine verstärkte Orientierung an der Gegenwartssprache und eine methodische Trennung in eine Linguistik des Sprachsystems (der langue) und eine Linguistik der Sprachverwendung, der Rede (parole), gerecht zu werden.2 Die Sprachforschung geht dabei von der allgemeinen Beobachtung aus, daß sich innerhalb der zahllosen Verwendungsmöglichkeiten einer Sprache gewisse Normen und Strukturen ermitteln lassen, die die Sprache als System ermöglichen und zugleich den Ausbau bestimmter Formen und deren Abwandlung erlauben, ähnlich dem Gerüst eines Hauses, das kaum sichtbar das ganze Gebäude trägt, auch wenn einzelne Stockwerke verändert oder die Außenseiten verschiedenartig verputzt oder bemalt werden. Die Grammatik
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einer Sprache mit allen ihren Regularitäten stellt ein solches Gerüst dar. In dieses Gerüst passen verschiedene Steine, lassen sich eigenartige Teile fügen, wechselnde Formen und Farben einbringen. Diesen Einschüben und Zusätzen ist die Sprachverwendung vergleichbar, die eine Unzahl von variablen Ausdrucksformen kennt, durch die jede Sprache der Vielfalt des Lebens und der Kommunikationsund Bewußtseinsvorgänge gerecht zu werden sucht. Solche Ausdrucksformen sind im Laufe der Entwicklung einer jeden Einzelsprache entstanden und in unterschiedlichem Maße zum Besitz der Sprecher und der Sprachgemeinschaft geworden. Eine bestimmte Ausdrucksabsicht kann so auf verschiedene Weise artikuliert werden. Die Einzelausdrücke folgen dabei den grammatischen Strukturen oder weichen im Rahmen bestimmter Möglichkeiten bis zur Grenze der Verstehbarkeit davon ab. Ständige Abweichungen von einer bestehenden Gebrauchsnorm können schließlich zur Ausbildung neuer Formen führen und die Entwicklung des Sprachsystems beeinflussen.3 Der Rahmen der Sprachverwendung überragt daher stets den des Sprachsystems (wobei hier nur an das System der Schriftsprache, der im schriftlichen Gebrauch durchschnittlich üblichen Sprachform, gedacht ist).
Die Sprachverwendung erweist sich als ein Zusammenwirken verschiedener sprachlicher und außersprachlicher Faktoren. Die schriftsprachlichen Möglichkeiten können dabei durch bestimmte Ausdrucksabsichten, situative Bedingtheiten und stilistische Erfordernisse variiert, aber auch durch Ausdrucksmöglichkeiten aus anderen Sprachbereichen, z.B. Mundarten, Fachsprachen, Fremdsprachen, mündlicher Redeweise, poetischen und rhetorischen Traditionen, ergänzt und beeinflußt werden.
Die in Texten sichtbare jeweilige Prägung des sprachlichen Ausdrucks die in unterschiedlichem Maße wirksamen Faktoren ergibt den Sprachstil. Er ist Forschungsgegenstand der Stilistik, die damit einen wichtigen Teil der bereits erwähnten Linguistik der Sprachverwendung ausmacht.4 Während die Grammatik die Regularitäten des sprachlichen Systems, wie sie sich aus zahllosen Einzelanalysen, aber auch aus dem Regelbesitz (der Kompetenz) der einzelnen Sprecher ergeben, nachkonstruierend aufzeichnet, erforscht die Stilistik die Regularitäten und Irregularitäten der Sprachverwendung (Performanz) sowohl in der Form von Inventaren der stilistischen Mittel und Möglichkeiten5 (»stilistischen Grammatiken«6) als auch – mit Hilfe entsprechender Analyseund Systemkriterien – in der Deskription und Interpretation des Stils von Einzeltexten.
Obwohl die Bedeutung der Stilforschung außer Zweifel steht, ist sie bisher noch zu wenig entwickelt worden. Einer geschlossenen Methode stellen sich hier manche Schwierigkeiten entgegen, die sich aus der Variabilität der stilistischen Einheiten und Kombinationen, aus der Lückenhaftigkeit der Grundlagenforschung und aus den unterschiedlichen Aspekten der bisherigen Stilistik ergeben. Jede Stilistik, soweit sie über den Rahmen einer bloßen Deskription hinausgeht, ist der Gefahr ausgesetzt, sprachlicher Besserwisserei oder subjektiver Deutelei zu verfallen, da ihr Gegenstand, der Sprachstil, stets komplexer bleibt als seine Konstruktion, Deskription oder Interpreta-
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tion und strenge Formalisierung, wie sie in der Grammatikforschung möglich sind, hier bisher nicht vorliegen und vorerst wohl auch kaum zu erwarten sind.7
Im folgenden wird der Versuch unternommen, wichtige Fragen der Stilistik in einer Weise zu behandeln, die jedem, der sich für diese Fragen interessiert, einen Einblick in die Probleme dieser Disziplin gibt, ihn zu Beobachtungen über den Stil anregt und Beispiele zur eigenen Sprachgestaltung und zum besseren Textverständnis vermitteln. Auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Stilforschung wird in den Anmerkungen hingewiesen. Dabei mußte auf ausführliche wissenschaftliche Darlegungen und Diskussionen verzichtet werden.
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Der Begriff des Sprachstils
Gegenstand der Stilistik ist der Sprachstil. Was darunter zu verstehen ist, scheint zunächst keiner weitern Erörterung zu bedürfen, da das Wort »Stil« heute recht häufig gebraucht wird. Wir sind daher leicht geneigt, aus der Verwendung dieses Wortes auf die speziellere Bedeutung des Sprachstils zu schließen. Bei näherer Betrachtung ergeben sich dabei jedoch Schwierigkeiten. Zwar ist die allgemeine Bedeutung von »Stil« im Sinne eines bestimmten Gepräges, einer bestimmten Art und Weise, einer Folge wiederkehrender Erscheinungen den meisten Zusammensetzungen mit »-stil« eigen, etwa dem »Baustil« als der wiederholten Verwendung bestimmter architektonischer Formen, dem »Trainingsstil« als der Technik bestimmter Übungen, dem »Erziehungsstil« als der Eigenart in der Auswahl bestimmter Erziehungsformen, dem »Lebensstil« als der charakteristischen Art zu leben; doch kann mit dem Wort »Stil« zugleich ein positives Werturteil gemeint sein, etwa dann, wenn wir von jemandem sagen, er habe einen eigenen, persönlichen »Stil«, und damit seine individuelle Lebensweise meinen oder wenn wir das Adjektiv »stilvoll« (das deshalb ein Lieblingswort der Werbesprache geworden ist) im anerkennenden Sinne für eine in der Harmonie oder Einheitlichkeit ihrer Formen besonders ansprechende Kombination von Gegenständen oder Handlungen gebrauchen, im Gegensatz zu »stillos« als Kennzeichnung einer unharmonischen Mischung disparater Dinge und Formen.
Man könnte auch dem Sprachstil eines Textes oder aller Texte eines Autors oder einer Zeit jene Merkmale zuschreiben, die wir in anderen Bereichen als wesentlich für den Stil anerkennen: eine gewisse Einheitlichkeit und Harmonie der Formmerkmale aufgrund bewußter Gestaltung oder Kombination, die anderen Gestaltungsmöglichkeiten wie auch der Gestaltungslosigkeit entgegengesetzt sind, also eine Auswahl aus möglichen Formen darstellen. Wir gelangen so zu einer Auffassung des Sprachstils als einer charakteristischen Eigenart der sprachlichen Ausdrucksund Darstellungsweise. Diese Bedeutung hat bereits zugrunde gelegen, als das lateinische Wort stilus (gr. stylós), das ursprunglich den Schreibgriffel bezeichnete, auch zur Kennzeichnung der sichtbaren Schreibweise und wenig später auch der verstehbaren gesamten Sprachform benutzt wurde. Lange Zeit behielt das Wort (lat. stilus, dt. Stil) diese eingeschränkte Bedeutung. Erst im 17. Jh. wurde es daneben für bestimmte Kompositionsweisen der Musik verwandt, im 18. Jh. auf die Gestaltungsweisen der bildenden Künste übertragen und dann weiter verallgemeinert.1
So eindeutig der Begriff des Sprachstils als Kennzeichnung einer auf Auswahl beruhenden charakteristischen und einheitlichen Weise des sprachlichen Ausdrucks auch erscheinen mag, so verschieden ist jedoch seine Auslegung und Verwendung in der Spiachwissenschaft. Vor allem in der wissenschaft-
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lichen Stilistik bestehen unterschiedliche Auffassungen über das Wesen des Sprachstils und damit über den Gegenstand und die Ziele und Methoden der Stilforschung.
Im folgenden werden diese unterschiedlichen Auffassungen zum Sprachstil zusammengestellt. Eine solche Übersicht erscheint sinnvoll, um die mit dem Stilbegriff verbundene Problematik einsichtig zu machen.
Stil als sprachlicher Schmuck
Die Auffassung des Sprachstils als Schmuck, den man der menschlichen Rede verleiht, ist sehr alt.2 Wir wissen nicht, wann Menschen zum erstenmal ihren Sprachausdruck durch bestimmte Formen der Abweichung vom bloß kommunikativen Sprachgebrauch zu verschönern suchten, etwa durch rhythmische Wiederholungen, Ausdruckswechsel, ungewöhnliche Wortstellungen, Sprachbilder, Wörter und Klänge, um ihren Aussagen größere Wirkung zu verleihen. Solche sprachlichen Schmuckformen sind jedenfalls sehr viel älter als die Lehren über bewußte Sprachgestaltung, wie sie uns seit den griechischen Sophisten im 5. Jh. v. Chr. erstmals überliefert sind. Die Lehre von der kunstreichen Gestaltung der Rede, besonders der öffentlichen Rede, erscheint – so verwunderlich das klingen mag – erst als Kind der Demokratie in den Stadtstaaten des alten Griechenland. Sehr früh hatten hier redegewandte Männer den Wert der kunstvollen und zugleich wirkungsvollen öffentlichen Rede in einer Staatsform erkannt, in der politische Entscheidungen und Gerichtsurteile von Debatten und Abstimmungen aller wahlberechtigten freien Männer in der Volksversammlung abhängig waren. Manche Reden berühmter Redner sind uns erhalten und zeugen von der kunstreichen Abfassung und stilistischen Gestaltung dieser Texte. Die Rhetorik wurde seit dem 5. Jh. in Griechenland schulmäßig betrieben und berufsmäßig gelehrt. Der geschulte Redner konnte – modern gesprochen – als Journalist, Politiker und Rechtsanwalt in der Öffentlichkeit Einfluß, Macht und Reichtum gewinnen.
Die Rhetorik wurde bei den Römern weiter ausgebildet und systematisiert. Innerhalb der auf die Gesamtheit der öffentlichen Rede gerichteten rhetorischen Lehre erfüllt die Stilistik eine wichtige Funktion. Von den fünf Teilen der Redevorbereitung: l. Inventio (Stoffsammlung), 2. Dispositio (Stoffordnung), 3. Elocutio (sprachliche Formulierung), 4. Memoria (Einprägung der Rede), 5. Pronuntiatio (Vortrag), hatte die »Elocutio« mit der Formulierung zugleich die Stilisierung des Gesagten zu übernehmen, das heißt, die Ausschmückung der vorgebrachten Gedanken mit den Stilfiguren und »Tropen« (Wortfiguren und Gedankenfiguren als Stilmittel), wie sie für den jeweiligen, vom rhetorischen Verwendungszweck abhängigen Stil (stilus, genus dicendi) zulässig und notwendig waren.
Im Mittelalter galt die Rhetorik neben Grammatik und Dialektik als eigene Lehrdisziplin innerhalb des Triviums der »septem artes liberales«, der
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